Unterwegs mit dem Wind
von Wolgast auf den Högakull

September 2024

Mit dem Wind ...  

… die falsche Entscheidung getroffen. Mal wieder! Gestern, als ich durch einen herrlichen Spätsommermorgen zur Arbeit geradelt bin, hatte ich mir vorgenommen, heute besonders früh aufzustehen und unterwegs am Achterwasser das ein oder andere Foto zu schießen, mich an einem der kleinen Häfen auf einen Steg zu setzen und der Sonne bei Aufgehen zuzuschauen.
Aber Pustekuchen. Statt Sonne gab es Wolken satt. Dazu noch einen kühlen Wind aus Südost, obwohl der Wetterfrosch im Fernsehen etwas ganz anderes versprochen hatte. Frieren statt genießen war angesagt. Zu allem Überfluss lag da noch ein Haufen abgetragener Klamotten auf den Steg, die wohl irgendwer dort entsorgt hatte. Idylle am Achterwasser? War gestern! Wäre ich nur in meinem Bett geblieben.
Falsche Entscheidungen treffen wir regelmäßig. Oder treffen sie etwa uns? Keine Ahnung, wie das mit den Entscheidungen so im Allgemeinen und im Besonderen ist. Ich weiß nur, dass mir ohne langes Nachdenken zahlreiche Beispiele für suboptimale Entscheidungen meinerseits einfallen. Erst vorgestern stand ich zum Beispiel am Ende einer langen Kassenschlange und stellte mich angesichts der vollen Einkaufskörbe meiner Mitsteher auf mindestens 15 Minuten Wartezeit ein. Mindestens! Da ertönte – erhofft, aber nicht erwartet – ein wohlbekannter Gong, und die verheißungsvolle Durchsage: „Gleich wird Kasse 2 für Sie geöffnet!“, ließ mich zum entsprechenden Förderband eilen.
Natürlich war ich nicht der Einzige, der die Durchsage vernommen hatte. Und nicht der Schnellste. Brav reihte ich mich an Position 4 ein. Immerhin war ich damit geschätzte 10 Plätze vorgerückt. Allerdings dauerte es doch ziemlich lange, bis sich ein junger Mann der Kasse näherte, etwas unsicher die Absperrung öffnete und umständlich hinter dem Förderband Platz nahm.
Was war denn mit dem Typen los? Der schlief ja bei der Arbeit fast ein! Erst eine Kundin hatte der Jüngling abgefertigt. Und das in einem Schneckentempo, während es an der anderen Kasse flott voran ging. Ich war mir inzwischen gar nicht mehr sicher, ob der Kassenschlangenwechsel die richtige Entscheidung war.
In diesem Moment ertönte eine weitere Durchsage: „Filialleitung zu Kasse 2, bitte!“ Der Supergau beim Kassenstau, wie alle Supermarktkunden wissen! Ich hätte mich in den Hintern beißen können. Wäre ich bloß in meiner Schlange stehengeblieben! Vielleicht noch einmal wechseln? Ein Blick nach hinten. Auf die Idee waren die anderen allerdings auch schon gekommen. Hinter mir stand keiner mehr an. Dafür hatte die andere Kassenschlange ihre ursprüngliche Länge wieder erreicht. Da half nur eines: Den Schalter von Tempo auf Tiefenentspannung umlegen und statt verzweifelt auf die digitale Uhrzeit des Kassenmonitors zu starren, dem jungen Mann bei der Arbeit zuschauen.
Machte der eigentlich schon ganz gut, der Jungspund. Das Schildchen mit der Aufschrift “Ich bin neu“ an seinem Kittel lieferte dazu noch die Erklärung für seine noch nicht ganz so optimale Performance. Aber dem Kunden in die Augen schauen, ihn trotz Stress freundlich zu begrüßen und nach erfolgter Zahlung mit einem weiteren Gruß zu verabschieden, das hatte er schon gelernt. Alle Achtung!
Eigentlich, dachte ich auf dem Nachhauseweg, war die Entscheidung für den jungen Mann doch gar nicht so schlecht. So freundlich war ich, wenn ich ehrlich bin, schon lange nicht mehr bedient worden. Und vielleicht kommt es mitunter einfach nur auf die Kriterien an, nach denen wir Situationen beurteilen. Ändern wir unsere Erwartungshaltung, dann ändert sich nämlich oft auch die Situation.
Wenn wir zum Beispiel Jesus nehmen. Dem wurde vor 2000 Jahren auch regelmäßig mit einer Erwartungshaltung begegnet, die er weder erfüllen konnte noch wollte. Mit Feuer und Schwert die Römer vertreiben. Sich als König der Israeliten auf den Thron setzen. Die Feinde Israels vernichten, wie einst Gott die Ägypter im Roten Meer. Alles so überhaupt nicht die Sache Jesu.
Es dauerte lange, bis die Menschen – zunächst vielleicht sogar nur seine Jünger – verstanden hatten, dass sie ihre Erwartungshaltung, ihren Blickwinkel auf diesen merkwürdigen Propheten ändern mussten, um zu verstehen, wer Jesus wirklich war und was er wollte.
Den Blickwinkel auf Situationen und Personen ändern. Unsere Erwartungshaltung überdenken und gegebenenfalls anpassen. Das ist kein Zeichen von Schwäche oder Nachlässigkeit, sondern eröffnet uns ganz neue Perspektiven, die wir sonst verpasst, übersehen oder einfach ignoriert hätten.
Noch mal zurück ans Achterwasser. Als ich missmutig gerade wieder auf mein Rad steigen wollte, prustete es neben dem Steg. Ein verirrtes Walross? Ich wartete gespannt. Im nächsten Augenblick erklomm sie die kleine Badeleiter. Nein, keine Meerjungfrau, sondern eine ältere Dame, die sich schüttelte wie ein nasser Hund und zu dem ominösen Kleiderberg stapfte. „Herrlich! Nicht wahr, junger Mann? Bei dem Wetter hat man das Achterwasser fast für sich.“ Sie strahlte. „Käffchen? Ich hab zwei Tassen mit!“ Dann zog sie eine Thermoskanne und zwei emaillierte Henkelpötte unter dem Kleiderberg hervor, wickelte sich in einen Morgenmantel und setzte sich auf den Steg.
Ich grinste. Als jungen Mann hatte mich mit meinen 57 Lenzen auch schon lange niemand mehr bezeichnet. Und der Kaffee? Der schmeckte auch, ohne sich vorher Durst im Achterwasser angeschwommen zu haben.