Unterwegs mit dem Wind
von Wolgast auf den Högakull

Oktober 2024

Mit dem Wind ...  

… aus gegebenem Anlass über uns Meckerköppe nachgedacht. Also Sie und mich und die ungefähr 8 Milliarden weiteren auf unserer Erde. Na gut: Es mag ein paar Grundgütige geben, aber die fallen bei der Masse der anderen nun wirklich nicht ins Gewicht.
Aber jetzt mal von Anfang an: Ich war mit dem Rad unterwegs und auf der Suche nach einem Motiv für das Cover meines neuen Wolgast-Krimis. Ein paar Stellnetze im Achterwasser sollten es sein. Inzwischen eine Rarität. Wer fischt denn heute noch im Achterwasser? Also außer den Kormoranen und den Anglern auf der Amazonenbrücke in Wolgast
.
Bereits im Frühjahr hatte ich einen der wenigen verbliebenen Stellplätze ausgespäht. Zwischen Neuendorf und Krummin entdeckte ich nämlich tatsächlich noch ein paar ufernahe Netze, die sich, auch ohne nasse Füße zu bekommen, fotografieren lassen würden. Jetzt, im September, mit dem spätsommerlich blauen Himmel über mir, ein paar entspannt dahinsegelnden Möwen und mit etwas Glück einem Segelboot am Horizont: Das musste ganz einfach ein perfektes Bild werden!

Voller Vorfreude nahm ich den holprigen Plattenweg unter meine schmalen Rennradreifen – normalerweise meide ich solche Pfade wie die Pest – und wurde nicht enttäuscht. Das Schilf am Ufersaum leuchtete in einem satten Grün. Auf den Stangen, an denen die Netze befestigt waren, ruhte ein Graureiher in trauter Eintracht mit einigen Seeschwalben, und die strahlende Spätsommer-Sonne verlieh der pittoresken Szenerie einen goldenen Glanz. Einfach grandios! – Wäre da nur diese Absperrung nicht im Weg gewesen. Der Fischer, oder wer auch immer, hatte ein Tau vor den Zugang zum Uferbereich gespannt. Kein wirkliches Hindernis, aber als bravem Deutschen war mir sofort klar: Durchgang verboten! Hier darfst du nicht weitergehen! Der Grund für die Absperrung erschloss sich mir nicht. Ein Wespennest oder andere mögliche Gefährdungen, die eine Absperrung notwendig gemacht hätten, konnte ich nicht entdecken. Außerdem zog sich durch das Gras – gut zu erkennen –  ein Trampelpfad …

Ich sah mich um. Niemand zu sehen, den man um Erlaubnis fragen konnte. So ein Mist! Meine Regel- und Gesetzestreue focht einen minutenlangen Kampf mit dem Verlangen aus, dieses einmalige Motiv abzulichten. Sie zog – Sie ahnen es – dann doch den Kürzeren. Die Verlockung war einfach zu groß.
Mit ziemlich schlechtem Gewissen stieg ich über das Tau, setzte zaghaft einen Fuß vor den anderen – und vernahm im gleichen Augenblick ein Motorengeräusch. Ein steinalter Kastenwagen näherte sich. Und während mein schlechtes Gewissen die Oberhand gewann, ich meine Fotopirsch abbrach und versuchte im Galopp die Sperrzone zu verlassen, stoppte der PKW. Die Seitenscheibe wurde heruntergelassen und sofort begann mich der Fahrer, im Übrigen ein steinalter Kauz, nach Strich und Faden zu maßregeln. (Ein anderes Wort, das den Redefluss des eskalierenden Seniors treffender beschreiben würde, erspare ich Ihnen …).

Trotzdem stapfte ich mutig der Schimpftirade des offensichtlichen Eigentümers entgegen. Ich hatte die Hoffnung, mich für mein unerlaubtes Eindringen entschuldigen zu können und gleichzeitig die Gelegenheit zu erhalten, mein Anliegen schildern zu dürfen. Aber Pustekuchen. Mit einer letzten wüsten Drohung, die die Begriffe Hund und Polizei enthielt, rumpelte der Kerl in seinem Oldtimer von hinnen, bevor ich überhaupt zu Wort gekommen war. Umdrehen und trotzdem ein Foto machen? Ging nicht mehr. Da war der Schatten zu groß, über den ich hätte springen müssen.
Missmutig stieg ich auf mein Rad und holperte in Richtung Krummin. Warum hatte der mir denn nicht zugehört? Ich hätte ihm doch alles erklären können. Aber, das sah ich dann schnell ein, der wollte überhaupt keine Erklärung. Erst recht nicht von so einem bunten Vogel mit Helm und Fahrradschuhen. Und außerdem war er ja auch völlig im Recht. Seine Wiese, seine Absperrung und ich ein unbefugter Eindringling.
Trotzdem hielt der Ärger bei mir an. Warum müssen die Menschen immer gleich meckern und motzen, statt erst einmal zuzuhören? Klar, macht es deutlich mehr Mühe, die Argumente des anderen anzuhören, um möglicherweise sogar dessen Denkansatz zu verstehen. Kostet Zeit, Nerven und Hirnschmalz. Niedermotzen oder –meckern und Ruhe ist! So einfach ist die Sache. Aber hätte der Wüterich im Auto mir eine Sekunde zugehört und dann mein Anliegen abgelehnt – ich wäre zwar etwas betrübt aber längst nicht so verärgert nach Hause gefahren. Seine Wiese, seine Entscheidung. Die hätte ich selbstredend respektiert.

Während ich hier sitze und diese kleine Geschichte für Sie aufschreibe, fällt mir eine Szene aus dem Neuen Testament ein. Ich denke an die Tempelreinigung, die in allen vier Evangelien beschrieben wird. Ein wütender Jesus stößt die Verkaufstische der Händler um und zerstört deren Auslagen.
„Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus“, wird er bei Johannes zitiert. Auf Diskussionen mit den Händlern lässt er sich gar nicht erst ein. Dass die mit dem Verkaufserlös ihre Familien ernähren müssen, gegebenenfalls nur angestellt sind und die zerstörten Tische und verdorbenen Waren aus eigener Tasche ersetzen müssen, interessiert Jesus nicht die Bohne. Er wütet, tobt –  und ist natürlich im Recht.
Wahrer Mensch und wahrer Gott. In diesem Moment – so meine Interpretation – hat wohl der wahre Mensch in Jesus gesiegt. Da war Jesus mal so ein richtiger Meckerkopp.

Und wir? Wir haben die Chance, es tatsächlich an einer Stelle mal besser zu machen als unser biblisches Vorbild an dessen Ansprüchen bezüglich Lebensführung und Umgang mit unseren Mitmenschen wir so oft scheitern. Das ist doch mal ein Anreiz! Nicht wahr?

Und das Bild zu dieser Kolumne? Das stammt aus dem Frühjahr. Freiwillig begebe ich mich nicht mehr in den Tempel – Verzeihung – auf die Fischer-Wiese!