Unterwegs mit dem Wind
von Wolgast auf den Högakull

Der Gummistiefel


Mit dem Wind werden sie größer und höher. Das ist klar. Die Wellen. Aber auch ohne Wind ist die Oberfläche der Ostsee nie ganz unbewegt. Und spätestens, wenn das Wasser dann als Wellchen den Strand erreicht, eine Seebrücke umspült oder ein Segelboot sanft auf und ab wiegt, dann plätschert es leise. 

Richtige Gezeiten gibt es an der Ostsee ja eigentlich nicht. Als Anhängsel der Nordsee und des Atlantiks muss sie sich als Drittverwerter mit dem begnügen, was noch übrigbleibt. Trotzdem ist ihr Wasserstand natürlich nicht an jedem Tag identisch. Die Windrichtung, die Mondphase oder eben Sturm oder Flaute haben ganz entscheidenden Anteil daran, ob es am Ostseestrand entweder nur ein trockenes Plätzchen für ein schmales Handtuch oder aber reichlich Strandplatz für eine umfangreiche Sandburg mit Strandkorb gibt. Manchmal, wenn der Sturm so richtig tobt und die Wellen selbst in der sonst so friedlichen Ostsee zu stattlicher Höhe anwachsen, dann verschwindet der flache Strand auch mal vollständig im Wasser und die größten Wellen beißen und reißen große Sandmengen aus der schmalen Randdüne.

 Wellen kann man aber nicht nur sehen, sondern vor allem auch hören. Was am Strand los ist, das erkennt der Küstenbewohner lange bevor er einen ersten Blick auf die Schaumkronen erhaschen kann. So dringt an stürmischen Tagen schon viele 100 Metern vom Meeresstrand entfernt das Tosen der Wellen ans Ohr. Und auch, ob das Wasser gerade auf- oder abläuft, also Flut oder Ebbe herrscht, kann man mit etwas Übung heraushören. An der Ostsee ist das aufgrund des geringen Unterschieds zwischen Hoch- und Niedrigwasser schwieriger, aber auch dort klappt das ganz ohne einen Blick in die Gezeitentabelle. Hören Sie doch einfach mal genau hin. Bei Flut nähern sich die kleinen oder großen Wellen fordernd, sind quasi permanent im Angriffsmodus und lechzen nach Landgewinn. Gierig greifen sie sich alles, was zu nah am Wasser liegt, um damit ihr lustiges Spiel zu treiben. Bei Ebbe dagegen rollen sie sich wie müde Hunde in ihrem Körbchen zusammen, geben nur ein sattes Schmatzen von sich, wenn sie umschlagen, und wissen eigentlich gar nicht so recht, wer sie in Richtung Strand geschickt hat.

 Gefährlich können sie allerdings immer sein, die Wellen. Ob klein oder groß, stürmisch aufgetürmt oder nur leicht gekräuselt. Denn eigentlich sind Wellen, wie die Spitze eines Eisberges, nur der Ausdruck dessen, was sich in den unendlichen Weiten auf, unter und im Meer abspielt. Und auch, wenn die Ebbe so schlapp und scheinbar kraftlos daherkommt, so ist gerade sie es, die auf ihrem Rückzug alles mit sich hinaus aufs Meer zieht.

 Zu viel Theorie? Dann ab an den Strand und den Gummistiefeltest gemacht. Am besten im Winterhalbjahr, denn im Sommer macht das nur halb so viel Spaß – und außerdem gibt es bei höheren Temperaturen leichter Schweißfüße in den Stiefeln. Keine Ahnung mehr was Gummistiefel sind? Also neudeutsch sagt man auch gern Gummiboots, aber gemeint sind die völlig wasserdichten Stiefel, in die man flott hineinschlüpfen kann und die nicht aus Goretex, sondern aus Naturkautschuk oder Kunststoff hergestellt werden. Ausgerüstet mit solchen Tretern, die es übrigens auch gefüttert gibt, kann man sich dem Meer dann mutig nähern. Das macht richtig Spaß, denn bei auflaufendem Wasser kommt einem das nasse Element sogar höflich entgegen. Schön, wenn die kleinen Wellen die Schuhe umspülen, sich wieder zurückziehen, um mit der nächsten Welle einen neuen Anlauf zu nehmen, den Höchststand ihrer Vorgängerinnen zu übertreffen. Fast wie in einem Wettbewerb. Und mittendrin steht der gut geschützte Gummistiefelträger bis, ja bis plötzlich eine Welle – so ein ungeplanter Ausreißer nach oben – über die Stiefelkante schwappt. Geträumt? Vielleicht. Zu viel riskiert? Schon eher. Das Meer unterschätzt? Bestimmt!

 Mir geht es übrigens seit mehr als 40 Jahren so, dass ich den Strand fast nie trockenen Fußes verlasse. Im Sommer ist das kein Problem. Aber bei 3°C Wassertemperatur nicht wirklich angenehm. Gummistiefel haben da auch noch die produktbedingte Eigenschaft, Wasser zwar vom Fuß fernzuhalten, soweit es nicht von oben kommt, „reingeschwapptes“ Wasser aber auch nicht wieder hinauszulassen. So ein vollgelaufener Stiefel – gern auch in der vollgesogenen, gefütterten Ausgabe – macht auf dem Heimweg richtig Freude. Und es dauert, bis sie wieder trocken sind, der Fuß und auch der Stiefel. Dass Letzterer nach dem Durchtrocknen dann so richtig gut nach Meer, Tang und Natur duftet: Geschenkt! Beim nächsten Ausflug an den Strand wird ja eh „nachgefüllt“. Das „Volllaufen-lassen“ klappt natürlich auch mit allen anderen Schuhen. Dafür müssen Sie nicht unbedingt Gummistiefel erwerben. Allerdings muss man dann auf das schöne Gefühl verzichten, wenn es im Stiefel bei jedem Schritt so richtig schmatzt, schlotzt und blubbert. Aber einen nassen Fuß bekommt man auch mit Sportschuhen, Wanderstiefeln oder Pumps. Garantiert und fest versprochen!

 Jetzt gibt es ja auch die Feiglinge, die nur bei Ebbe und Windstille an den Strand gehen. Aber auch denen sei versichert: Wo ein Meer, da auch ein nasser Fuß! Natürlich gehört da eine Menge Erfahrung dazu, um unter solch erschwerten Bedingungen dieses unvergleichliche Gefühl im Stiefel genießen zu können. Der Profi empfiehlt dazu zwei absolut sichere Methoden, von denen die erste gern von meditierenden Inselenthusiasten, die zweite bevorzugt von Kindern, Jugendlichen und Ungeduldigen verwendet wird. Der Guru stellt sich mit seinen Stiefeln ins fast unbewegte Meer, sodass die kleinen Wellchen nur sanft die Knöchel umspielen und wartet, meditiert, entspannt und schaut auf die Unendlichkeit des Meeres. Und während er so wartet, versinken seine Stiefel sanft aber stetig, ja fast unmerklich im Wasser, denn der Ebbstrom zieht den Sand mit jeder rückläufigen Welle vom Stiefelhindernis ab. Nach und nach verringert sich so der Abstand zwischen der Wasseroberfläche und der oberen Stiefelkannte bis schließlich so eine klitzekleine Welle mit einem dezenten Schapp den Schuh volllaufen lässt. Geschafft! Gratulation! Auch die zweite Methode führt todsicher zu diesem Ergebnis. Es geht nur schneller. Weil das Meer ja so ruhig ist und gar keine Anstalten macht, dem Fuß entgegen zu kommen, geht der gestiefelte Fuß – und mit ihm sein Mensch – eben ins Meer. Natürlich nur gaaanz langsam, den Blick fest auf die Kante des eigenen Stiefels geheftet. Noch ein Stückchen … und noch etwas … und ein letzter kleiner Schritt und: Schwapp! Die kleine Welle kennen wir schon aus dem ersten Beispiel.

Es soll ja Menschen geben, die schaffen es, einen ganzen langen Urlaub ohne nasse Füße am Meer zu verbringen. Da fehlt aber doch etwas: Der direkte Kontakt mit dem Element Wasser. Die Erfahrung von Naturgewalt oder auch das Erkennen der eigenen Trotteligkeit. Das nicht ausgelebte Risikobedürfnis und der Geruch von Fisch, Tang und Lebertran im Schuh. Will man das wirklich? Will man auf diese Erfahrung tatsächlich verzichten? Die einzig mögliche und richtige Antwort heißt: Nein! Wer das anders sieht, der sollte seinen Urlaub doch einfach gleich in den Bergen verbringen. 

Also ab ins nächste Schuhgeschäft und ein paar Gummistiefel erwerben. Die schönen schwarzen oder dunkelgrünen für den „männlichen Angler“, die modisch akzentuierten halbhohen Boots für die Dame oder die quietschbunten mit Seesternen oder Blümchen für den Nachwuchs gekauft, eingepackt  und beim nächsten Winterurlaub wird er dann gestartet, der spannende Wettbewerb um den schnellsten vollgelaufenen Gummistiefel.

 Sie wohnen am Meer und kennen die wunderbare Erfahrung einer eiswassergekühlten Großzehe noch nicht? Kein Problem! Auch an der Küste gibt es Gummistiefelläden. Und eines kann ich aufgrund meiner jahrzehntelangen Erfahrung versichern: Als erfolgreicher Gummistiefelversenker erfreut man seine Mitmenschen, lockert die Stimmung am Strand auf, verführt seine sonst vielleicht wortkargen Mitspaziergänger zu launigen Kommentaren und steht nicht nur mit einem Fuß im Eiswasser, sondern garantiert auch ganz unverhofft im Mittelpunkt. Achten Sie also bei ihrem Experiment auf eine ausreichende Anzahl an Zuschauern mit Smartphones, denn es wäre doch einfach zu schade, wenn nur Sie etwas von diesem besonderen Erlebnis hätten. Teilen Sie so mit anderen, was sie berührt! Vielleicht nicht das eisige Wasser im Schuh, aber ganz bestimmt und ungewollt dieses ganz persönliche und außergewöhnliche Erlebnis.